Geheimbünde und Wunderglaube im 18. Jahrhundert

Geheimbünde und Wunderglaube im 18. Jahrhundert
Geheimbünde und Wunderglaube im 18. Jahrhundert
 
In einem Jahrhundert, in dem das Alltagsleben von plattem Vernünfteln statt von produktiver Vernunft bestimmt wurde, von der Not der Existenz, die man mit rationalen Mitteln zu steuern versuchte, während die transzendente Deutung und auch der Trost von daher an Glaubwürdigkeit verloren, brachten die geheimen Gesellschaften so etwas wie Poesie ins Leben. Durch die gesellige und verschwiegene Verbindung wohlgesonnener Männer glaubte man, das Beste für die Menschheit rasch und einfach herbeiführen zu können. Als gäbe es Macht, Gewalt und Herrschaft nicht mehr, wenn man sich im vertrauten Kreise mit den aufgeklärten Despoten besprechen kann, hielt man alles nach Plan für veränderbar, selbst die Grundlagen der alten Gesellschaft. Dennoch können die gewaltigen Veränderungen, die in der Französischen Revolution zum Höhepunkt kamen, kaum dem Wirken dieser liebenswürdigen Gesellschaften zugeschrieben werden.
 
Mit der Kritik an den Wundern der heiligen Schriften und der kirchlichen Überlieferung, die sogar in den Reihen aufgeklärter Geistlicher geübt wurde, und mit der Vertreibung des Aberglaubens durch die um sich greifende Aufklärung war in manchen Köpfen Verwirrung angerichtet worden. Die frühere Trennung von kirchlich beglaubigten Wundern einerseits und als eingebildet herabgestuften andererseits konnte nicht mehr gelten, und der Wunsch nach irrationaler Erklärung der Zufälle des Lebens konnte von der Wissenschaft nicht erfüllt werden. So öffnete sich zwischen dem Halbwissen und dem verlorenen Glauben ein Graben, in dessen Sumpf seltsame Blüten gediehen. In unmittelbarer Nähe der Zentren der Aufklärung wucherten häufig lang andauernde Exzesse des Wunderglaubens, die selbst durch staatliche Gewalt nur schwer einzudämmen waren. Wenige Schritte von der bescheidenen Wohnung in Paris, wo Diderot den Plan der »Encyclopédie« ausarbeitete, liegt die Kirche Saint Médard. Einer ihrer Diakone, François de Pâris, war ein glühender Anhänger des verbotenen Jansenismus mit einem asketischen Lebenswandel. Als er auf dem kleinen Friedhof der Kirche nach seinem frühen Tod begraben wurde, versammelten sich dort Fanatiker, die sich durch Grausamkeiten in Verzückung versetzen ließen, die »Konvulsionäre von Saint Médard«. Legenden, Wunder und immer wüstere Ausschreitungen folgten, bis die Polizei den Friedhof schloss und den berühmt gewordenen Anschlag anbrachte: »Im Namen des Königs, Verbot für Gott, an diesem Ort Wunder zu wirken«.
 
Trotz der Verbote wurden die kollektiven Halluzinationen privat fortgesetzt, bei großen Herren oder in den Häusern der Armen. Während die Bevölkerung, etwa in den Testamenten, immer weniger Seelenmessen bestellte und sich von der Kirche zunehmend entfernte, entstanden kleine Gruppen fanatischer und in der Kirche nicht gern gesehener Aktivisten, die sich durch Verfolgungen nur noch bestätigt fühlten. Neben den lebensfeindlichen Askeseformen religiöser Gemeinschaften gab es in einer Zeit säkularen Lebensgenusses der herrschenden Schichten eine ganze Reihe quietistischer Konventikel, in denen man die Schriften der Madame Guyonstudierte; von ihren deutschen Anhängern gab Karl Philipp Moritz in seinem autobiographischen Roman »Anton Reiser« ein anschauliches Bild.
 
Der Wunderglaube konnte auch an schwer oder nicht heilbare Krankheiten anknüpfen. Der deutsche Arzt und Philosoph Marcus Herz berichtete in der »Berliner Monatsschrift« von dem unglaublichen Zulauf gerade aus höheren Schichten der Bevölkerung, den in Berlin ein Handwerker mit »Mondheilungen« hatte. Reisende Quacksalber und Wunderdoktoren mit Elektrisiermaschinen hatten fast überall Erfolg: Das Jahrhundert der Aufklärung war also ganz und gar kein aufgeklärtes Jahrhundert. Die unablässige Beschäftigung mit ökonomischen Fragen machte paradoxerweise unberechenbare Glücksspiele gesellschaftsfähig, und tatsächlich schien das Geschehen an der Börse vielen nicht durchschaubarer als diese. Der Aberglaube erreichte gefährliche Ausmaße gerade dadurch, dass er aufgrund gewisser Regelmäßigkeiten rationale Erklärbarkeit vorgab und zum Inhalt geselliger Erörterungen wurde. Die Struktur der höheren Gesellschaft bot sich dafür besonders an. Angesichts des lebhaften diplomatischen Verkehrs und der Personalisierung der Politik, in Anbetracht der unendlichen Langeweile des begüterten, nicht arbeitenden Adels wuchs das Verlangen nach Klatsch, unerhörten Begebenheiten, Verschwörungen und geheimen Verbindungen. Einzelne verstanden es, diesen Bedarf zu ihrem eigenen Nutzen sehr geschickt zu befriedigen. Die Beschwörung von Geistern, Rituale der Initiation, Projekte für den raschen Gewinn oder Versprechen für die dauernde Beglückung des ganzen Menschengeschlechts wurden deshalb pünktlich geliefert, weil sie ersehnt wurden. Der Missbrauch von Vertrauen und der Aufwand obskurer Gelehrsamkeit, verbunden mit den neuesten Tendenzen wissenschaftlicher Forschung, machten ein Treiben daraus, das der deutsche Schriftsteller und Naturforscher Georg Forster mit dem treffenden Ausdruck »Seelenunzucht« bezeichnete.
 
Andererseits waren geheime Gesellschaften wie die Logen der Freimaurer, seit sie zu Beginn des 18. Jahrhunderts in England gegründet wurden und sich rasch auf dem Kontinent verbreiteten, tatsächlich eine der wenigen Möglichkeiten der Begegnung von Bürgerlichen und Mitgliedern des Hochadels. Die »Brüderlichkeit« der Freimaurer bestand darin, dass die Hofrangordnung und andere gesellschaftliche Schranken aufgehoben waren, solange man im vertrauten Kreis der Loge beisammen war; ebenso wurden Unterschiede der Konfession und der politischen Ansicht suspendiert. Hinter den diskreten Versammlungen konnten aber nur Toren Geheimnisse vermuten. Selbstverständlich versuchten Ehrgeizlinge, Weltverbesserer und auch manche Umstürzler, sich der vorhandenen Strukturen der Vertraulichkeit und der Gastlichkeit sowie des leichten Zugangs zu wichtigen Persönlichkeiten zu bedienen, um Ziele zu befördern, die das Misstrauen einer nicht eingeweihten Obrigkeit erregen mussten. So kam es zu Verboten und Verfolgungen, ebenso zu Spaltungen und Kongressen. Dass auf diesen Zusammenkünften neue Ideen geboren und verbreitet wurden, ließe sich aber nur mit äußerster Vorsicht behaupten. Verglichen mit der politischen Philosophie des 16. Jahrhunderts, auf die man sich in der Frühaufklärung besann, waren die wohlmeinenden Pläne einiger Illuminaten und Freimaurer harmlos.
 
Große gesellschaftliche Bewegungen lassen sich nicht wie die Verschwörungen von Hofkamarillen auf einzelne Rädelsführer reduzieren. Das historische Drama und die anekdotischen, personalisierenden Diplomatenberichte in der erzählenden Geschichtsschreibung haben den Blick dafür etwas getrübt. Wie der Wunderglaube selbst, so ist die Erwartung, mangels eigener Forschung unbegreifliche Geschehnisse aus dem Geheimnis erklären zu können, eine rührende Absurdität. Der Abbé Barruel hat es ohne wissenschaftlichen Erfolg mit der Französischen Revolution versucht - seine Verschwörungsstheorie vermutete dahinter einen Geheimbund von Freimaurern und Enzyklopädisten als Drahtzieher -, aber die Sehnsucht, mit Horoskop oder Kaffeesatz ein wenig Halt in einer schwer begreiflichen Realität zu finden, war nicht so schnell durch Vernunft und Wissenschaft zu ersetzen.
 
Prof. Dr. Horst Günther

Universal-Lexikon. 2012.

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